Eigene Spur
Diese führt in das elterliche Haus in einer Siedlung am Stadtrand, in die unmittelbare Nachbarschaft und in das Lebensumfeld naher Verwandter im ländlichen Raum. Auf dieser Umlaufbahn befinden sich Orte, deren Struktur, – obgleich einer eindeutigen Funktion zugeordnet – auch eine andere, improvisierende Nutzung zulässt: Werkstätten mit ihren Erweiterungen in den Außenraum, Dachböden, Kellerräume und Kellerhütten, oder Schuppen mit Überdachungen zum Zwecke der Lagerung.
In diesem Kontext zu erwähnen ist aber auch die beginnende Abneigung gegenüber Räumen mit vorgegebener Codierung: Esszimmer, Wohn- bzw. viel mehr Fernsehzimmer oder Schlafzimmer. Diesen Zuschreibungen haftet etwas Absolutes, Endgültiges an, weswegen sie als besonders beklemmend erlebt werden. Ausgenommen davon ist die Küche. Alleine deshalb, weil dort die Möglichkeit besteht, etwas herzustellen, weil darin Umwandlungsprozesse stattfinden, die jenen in einer Werkstatt oder einem Atelier sehr nahekommen.
Das Nachspüren fördert Intensitäten zutage, die die spätere Zukunft entscheidend prägen werden. Es umzirkelt Situationen, in denen sich Individuen imaginär konstituieren, Situationen, in welchen Menschen sich und ihre Umgebung – durch ihr Tun – herstellen. Die Rede ist von Momenten handwerklicher wie künstlerischer Abläufe, für welche die Umgangssprache Wendungen wie darin aufgehen oder damit verwachsen bereithält:
1 Von den vier Flächenkoordinaten des rechteckigen Tisches sind von Beginn an zwei durch meine Eltern, eine weitere durch mich und die vierte durch das Küchenfenster bestimmt. Für Außenstehende kaum wahrnehmbar, aber unmittelbar zu beobachten, nehmen hier die ersten werkstattähnlichen – und wenn man so will – künstlerischen Impressionen ihren Ausgang:
Zum einen durch den Beruf meiner Mutter, welche als angelernte Modistin Kopfbedeckungen, vor allem Kappen, in Heimarbeit fertigt, wobei das Zusammenheften der Einzelteile und das Abgleichen der jeweiligen Kappengröße auf Kopfmodellen aus Holz erfolgt, die zu diesem Zweck auf dem Küchentisch stehen. Genäht werden diese Kopfbedeckungen auf der fußbetriebenen Nähmaschine. Diese steht während der Woche funktionsbereit neben dem Tisch und wird am Wochenende – zusammengeklappt und einem Kasten ähnlich, mit gehäkeltem Tischtuch sowie einer Blumenvase darauf – in die Küchenecke gerückt...
Zum anderen durch eine spielerische, fast nebensächliche Aktivität meines Vaters während des Lesens der Tageszeitung, im Anschluss an den nächtlichen Dienst. Nach Lektüre des Blattes oder während des Nachdenkens über das Kreuzworträtsel skizziert er mit sicherer Linienführung kleine Figuren, Figurengruppen oder porträthafte Darstellungen, nicht höher als drei, vier Zentimeter, in die freien Streifen zwischen Text und Papierrand. Der Vorgang gleicht einem Ritual. Die Zeichnungen haben eine ungemein hohe formale Dichte sowie Ausdruckskraft und sind eng mit dem handschriftlichen Duktus dieses Mannes verwandt.
Gegen die Bezeichnung "nebensächlich" spricht die Intensität der Skizzen wie auch seine entspannte Aufmerksamkeit, dafür jedoch die bescheidene Art der Herstellung der kleinen Zeichnungen und – mehr noch – die Art ihres Verschwindens, denn: Sie werden von ihrem Urheber mit schwungvollen Linienbündeln überformt, bevor dieser die Zeitung ablegt...
2 Zwei Häuser weiter, im Keller, entstehen Madonnen, Kruzifixe oder „Betende Hände“ nach Albrecht Dürer. Der Raum empfängt seine Besucher mit einer unübersichtlichen Anordnung von Holzstücken verschiedener Größe und Härte, diversen Schnitzeisen, mehreren Belgischen Brocken sowie mit begonnenen Arbeiten. Geruch von Schmieröl, Terpentin und Metall begleitet den Weg dorthin, denn zuvor muss die Garage passiert werden. Ab der zweiten Tür, es riecht holzig, führen Rohlinge direkt zum Schnitzbock, der dazu dient, das zu bearbeitende Holz festzuhalten.
Im Gegensatz zu den üblichen Schnitzereien, wie sie in diversen Souvenirläden zu finden sind, strahlen manche Arbeiten von Josef E., vor allem in den Gesichtspartien, eine seltene Erhabenheit aus.
Sein eigenes Gesicht dagegen wird, vor allem beim Schneiden der feinsten Linien, fast grimassenhaft verzerrt und manchmal ist wegen der hohen Anspannung – sozusagen in eine Atmosphäre ohne Zeit hinein – ein leises Ächzen zu hören.
Sehr zum Leidwesen seiner Familie verlegt er seine Schnitzarbeit im Winter vom unbeheizbaren Keller in das sogenannte Wohnzimmer...
3 Wilhelm E., im Haus gegenüber, schreibt über Franz Stelzhamer: Staub und der Geruch von vergilbtem Papier liegen im Zimmer der Mansarde, ebenso Zeitschriften und Tageszeitungen, aus welchen zur Recherche einzelne Artikel ausgeschnitten werden. Gewissermaßen als Ort der Materialisierung der Gedanken steht eine schwarze Schreibmaschine der Marke Triumph auf dem Tisch – inmitten von zum Teil geöffneten Büchern mit unzählig herausragenden Papierstreifen als Lesezeichen – , daneben ein Sessel. Ansonsten wieder Bücher, auf dem Fußboden vertikal, auf dem einfachen Wandregal horizontal geschichtet. Von Wilhelm E. bekomme ich, aus einem Nachlass stammend, eine alte Atelierstaffelei. Schwer und obendrein zu lang – ihr Mittelsteg muss auf das Maß der Raumhöhe gekürzt werden – führt sie zu einem eigenen Atelier.
Dieses findet mit Dunkelkammer, zunächst in der Mansarde des Elternhauses Platz, dann in dessen Keller, später in einem angemieteten Backhaus, also einem Nebengebäude eines Bauernhofes, danach und aufgrund der Lebensentwicklung im unbenützten Hobbyraum eines Mietshauses in Wien sowie anschließend in der eigenen Wohnung – und letzten Endes wieder im nun ausgebauten Keller jenes Hauses, von dem, wenn man so will, die Lebensreise ausgegangen ist...
4 Im Alter von zwölf, dreizehn Jahren vielleicht, während einer Sommerwoche auf dem Land, bei meinen beiden Cousins – mit allem was zu deren Leben dazu gehört: Wald, Wiese, hohe Obstbäume, nicht weniger hohe Leitern, Obstpresse, Fässer, Gerätehütte – an einem Regentag:
Wir zeichnen die Topfpflanzen vom Fensterbrett in der Küche. Mit der Zeit wird diese Vorlage langweilig. Ich "nötige" den Jüngeren, Modell zu sitzen und versuche mit Bleistift auf Papier ein Portrait im Profil. Von Überlegungen geplagt, wie ich es anstellen könnte, dass die Gesichtslinie unter den Haaren "verschwindet" und dabei die Charakteristik des Kopfes nicht verloren geht, oder Nase und Lippen nicht "aufgesetzt" aussehen, radiere ich fast mehr als ich zeichne. Die Sitzung dauert etwa eine halbe Stunde; das Blatt ist seither verschollen.
In Erinnerung bleiben allerdings zwei intensive Begebenheiten: Durch das genaue Hinschauen und den Versuch, das Gesehene umzusetzen, scheint es, als würde zwischen mir und meinem Gegenüber – für einen kurzen Moment – ein Schleier fallen. Ich kippe regelrecht ins Motiv...
Der restliche Tag zieht unbestimmt an mir vorbei, fremd, alles ist irgendwie anders. Ich muss ständig an dieses Ereignis denken, kann mich diesem dominierenden Gefühl nicht entziehen, es nicht mitteilen und auch nicht den Zustand danach...