Die Rückschauende
Irgendwann im Frühherbst stand ein Kuvert an der schwarzgrünen Kugelvase auf dem Tisch im Wohnzimmer, welcher das Zentrum des Raumes oder, wenn man so will, das Zentrum der neuen Wohnung bildete.
Waren keine Blumen darin, erwartete sie schmucklos und geduldig die Post, denn es war üblich, die wenigen ankommenden Briefe, mit der Anschrift in Sitzrichtung des jeweiligen Familienmitgliedes zeigend, an diese Vase zu lehnen. Andere Zusendungen landeten auf dem Stoß von Zeitungen, gleich neben dem Sofa aus gelbem Leder.
Zuerst dachte R gar nicht an einen persönlichen Brief, als er das Kuvert dort stehen sah, sondern an die Einladung jenes ländlichen Gasthofes in dem seine Frau und er zu besonderen persönlichen Anlässen gerne zu Abend aßen und von dem beide, der Saison entsprechend, eine Menüaufstellung der diesjährigen Wildspezialitäten erwarteten.
Die breite schwarze Tinte, mit der der Brief beschriftet war, sowie die Briefmarke weckten dann aber doch sein Interesse. R nahm das Kuvert, wendete es dabei und begann, den Absender zu lesen. Dieser stand, als wollte er verheimlicht werden, ganz links am oberen Rand des Briefumschlages. Bei näherem Hinsehen aber war zu erkennen, dass dort, vielleicht nach kurzem Zögern, ein Familienname hinzugefügt worden war.
Für R ein seltsamer Augenblick, einen an ihn adressierten Brief zu erhalten, dieser war erst der dritte oder vierte, welchen er überhaupt je bekommen hatte. Ansichtskarten oder sonstige Einladungen standen öfter an seiner Seite der Vase. Es handelte sich um den Brief einer früheren Kollegin. Ihr Tisch im großen Arbeitszimmer war lange leer gestanden und von den anderen nur gelegentlich genutzt worden, geradeso als wollte man noch schnell die Zeit nützen, bis die eigentliche Besitzerin wieder kommt, die vielleicht nur einen freien Tag hatte.
Einer von den wenigen handgeschriebenen Briefen, die R erhalten hatte, stammte von seinem Jugendfreund E und datierte zurück ins Jahr 1973, kurz nach dessen Übersiedelung in ein anderes Bundesland, wegen des Medizinstudiums. Damals hatte R das Gefühl, einen ihm besonderen Menschen zu verlieren und konnte sich deshalb noch ganz genau an die Stimmung in ihm erinnern, als er sich von E verabschiedet hatte...
Seine Gedanken waren jäh in der Straßenbahn, mit der er vor mehr als fünfzig Jahren, abends, die Brücke überquert hatte, welche den nördlichen, kleineren Teil seiner Heimatstadt mit dem Süden verband.
Während des zweiten Weltkrieges und auch noch Jahre danach, bot diese Brücke die einzige Möglichkeit, vom russisch besetzten Norden, in den von Amerikanern besetzten südlichen Teil zu gelangen. Die Demarkationslinie war die Donau.
R wusste aus Schilderungen seiner Eltern von den Szenen, die sich an den gegenüberliegenden Brückenköpfen abgespielt hatten, wenn aus unerklärlichen Gründen die Erlaubnis zum Passieren plötzlich, von einer Person zur anderen, verwehrt wurde, und wo Grenzsoldaten zu Richtern über Zerfall oder Verbleib von Beziehungen wurden.
All die Bilder hatte R nun vor sich, und diese vermischten sich mit Bildern aus der Mythologie, welche das Überqueren eines Stromes als Symbol für Veränderung oder für ein Hinübergleiten in ein anderes Leben darstellten. Wenige Wochen später hatte ihn dann dieser Brief erreicht, überschrieben mit "Der glückliche Tod" und einem langen Zitat aus Albert Camus gleichnamigem Roman.
Vielleicht hätte der Vorname allein zu viel Nähe, zu viel Vertrautheit gezeigt, denn was hätte Rs Familie denken sollen, wenn ein Brief mit nur einem weiblichen Vornamen als Absender angekommen wäre. Außerdem gab es in der gemeinsamen Bekanntschaft niemanden, der nur seinen Vornamen als Absender auf einen Brief schreiben würde, ebenso wenig unter den Verwandten.
Vielleicht war es nur eine Deutung, nur eine Idee von R, eine solche Nähe herbeizudenken, denn als die Absenderin noch da gewesen war, hatte er sie Indigo genannt. Nur in Gedanken natürlich. R hätte es nie gewagt, sie tatsächlich so anzusprechen. Sie hätte es, nachdem diese Form der Anrede schon fast wie ein Kosename anmutete, als distanzlos, ja sogar als anmaßend empfinden können und wäre vermutlich verärgert darüber gewesen – und das wollte R auf keinen Fall.
Indigo deshalb, weil sie diesen für ihn schönsten aller Blautöne so gerne hatte, und weil sie diese Farbe hin und wieder an sich trug, manchmal in ihrer Kleidung, manchmal als Schmuck oder, mit leichtem Hang zum Violett, als Lidschatten.
Dem Kuvert entnahm R ein sich ins Braunviolett neigendes, in gleich engen Abständen geripptes Papier. Es wies fast schon die Stärke eines dünnen Kartons auf und war zudem zu einem Billett gefaltet.
Nicht eines dieser lieblosen Fabrikate, wie sie in den Papierläden oder Trafiken zu Hunderten auf den Drehregalen zu finden waren, von würgender Eintönigkeit bis hin zu überladenen, vordergründigen Arrangements verschiedenster Papier- und Schriftarten. Dieses Billett war ohne jegliche dekorative Raffinesse, schlicht, und sah aus als, sei es von Hand gefertigt worden.
Vorne, auf der oberen Hälfte, klebte der Ausschnitt eines mehrfarbigen Druckes, eine Fotografie, die Rosen zeigte. Dicht nebeneinanderliegende Rosen, nicht vollends aufgeblüht, vom schattigsten Altrosa bis zu einem verhaltenen, aber jugendlichen Orangegelb, durchsetzt mit etwas Schleierkraut. Seine weißen Punkte verbreiteten die Atmosphäre von erotisierender Spitze und ließen die sonst so feierlich, fast ernst, fast traurig wirkenden Rosen ein wenig verspielt erscheinen.
Auf der Innenseite stand rechts, mit der genannten breiten Tinte geschrieben, Indigos neue Adresse. R musste ans Fenster gehen, um die dunkle Schrift auf dem dunklen Hintergrund lesen zu können. Der leichte Kontrast der Zeilen auf dem Violett wirkte, als würde sehr leise gesprochen werden und die Vertraulichkeit, welche vom Absender fast unterdrückt werden zu wollen schien, klang nun, neben den Rosen, auch in der Handschrift durch, auf eine Weise, als würde sich das Innere des Briefes wie der Teil eines intimen Gespräches darstellen.
Fast entschuldigend merkte die Schreiberin an, dass ihr für einen längeren Brief im Moment zu wenig Zeit zur Verfügung stehe, wahrscheinlich wegen der Arbeitssuche oder der Renovierung der Wohnung. Sie sollten aber, stand in dem kurzen Brief, für die Zukunft eine andere Art der Kommunikation finden, denn derzeit hörten sie voneinander nur über den Umweg einer beiden bekannten Dritten.
Ihr würden die gemeinsamen Gespräche fehlen, die hauptsächlich im stickigen und ungemütlichen Zimmer für Raucher stattgefunden hatten, und die für beide jedes Mal ein schöner Tagesbeginn gewesen waren. Zehn Minuten vor Arbeitsbeginn. Oder wenn der Nachmittag wie bleiern vor ihnen gelegen war.
An der Tür im großen Arbeitsraum, rechter Hand neben dem Kaffeeautomaten, war eine Zusammenkunft mit Indigo angekündigt, die je nach Anzahl der daran teilnehmenden Personen, entweder in einer Privatwohnung oder in einem Lokal in der Nähe stattfinden sollte. Nach mehreren Diskussionen wurde für ein Restaurant mit französischer Küche entschieden.
R war sehr erleichtert über diese Alternative, denn er wollte sich nicht in die Privatheit anderer begeben, schon gar nicht solcher, die er nicht gut kannte. Er wollte die mit Sicherheit vorhandenen Rituale, eine Wohnung zu nützen, nicht berücksichtigen müssen. Nicht aus Mangel an Einfühlungsvermögen, sondern aus Aversion gegenüber Spannungen, die üblicherweise dann entstanden, wenn sich die Gastgeber bemüßigt fühlten, besonders zuvorkommend zu sein oder aus Gastfreundschaft Dinge geschehen ließen, welche gänzlich ihren Gewohnheiten widersprachen.
Viel lieber wollte R Indigo in einem Café treffen. Oder an einem Ort, an dem aus einem zurückhaltenden „Hallo“ eine herzliche Umarmung werden durfte.
Je näher der besagte Abend heranrückte, umso mehr wich Rs anfängliche Abneigung, sich diesem kollektiven Rendezvous anzuschließen...
Die Fahrt über die Donau, die Suche nach einer geeigneten Parkmöglichkeit trotz des vielen Schnees und die paar Schritte zur Gaststätte erlebte R in einer Art Schwebezustand, hin und her pendelnd zwischen der Konzentration auf die Straße, den Weg und den Gedanken über die bevorstehende Begegnung.
Er überlegte kurz, eine Runde um das wasserseitig verglaste Gebäude zu gehen, um feststellen zu können, in welcher Formation sich die Gruppe zusammengesetzt hatte, oder wo genau im Restaurant Indigo Platz genommen hatte. Er hätte nämlich gerne in Erfahrung gebracht, an welcher Seite des Tisches sie sitzen würde und ob er sie ohne viel Aufsehen begrüßen würde können. Diese Überlegungen verwarf R wieder. Plötzlich war ihm seine Berechnung unangenehm.
Angesichts des zwar frostigen, aber schönen Abends vermied er die Abkürzung durch den Park, der nicht allzu steil zum Ufer abfiel. Einige Schlitten fahrende Kinder waren noch da. Sie hatten einen breiten, glatten Weg in den Schnee gezogen, an dessen Oberfläche blaue und orangerote Lichtreflexe der Neonreklame des Restaurants aufblitzten.
R war fasziniert von diesem Farbenspiel und überlegte, ob es wohl möglich wäre diesen außergewöhnlichen Eindruck bildlich darzustellen. Im Prinzip wollte er noch ein wenig Zeit gewinnen, den Augenblick der Begrüßung ein wenig hinauszögern.
Nach dem Eintreten wurde er von der Kellnerin gefragt, ob er reserviert habe. Noch bevor er antworten konnte, nahm er in einem dunklen Teil des Raumes mit offenem Kamin die Tischrunde vor jener Glasfront wahr, durch die er sich von außen noch vergewissern hatte wollen, wer ihr angehörte.
Von drinnen war trotz der spärlichen Außenbeleuchtung die vereiste Alte Donau zu sehen. Sanft zeichnete der frisch gefallene Schnee die Konturen des Uferstreifens nach. Ebenso die Eisfläche, welche den Eindruck erweckte, als befände sich unter der Schneedecke eine Wiese. Nur die zum Schutz vor dem Frost umgelegten Boote ließen anderes vermuten.
Irritiert, fast verärgert, über seine weitschweifenden Beobachtungen, näherte sich R einer langen Reihe zusammengestellter Tische und war bemüht, seine suchenden Blicke so wenig wie möglich offen zu legen. Er konnte Indigo im ersten Moment nicht erkennen und setzte sich, nach dem er Jacke und Schal abgelegt hatte, vom raschen Temperaturwechsel sichtlich benommen, einigermaßen enttäuscht an die Stirnseite besagter Tischreihe neben dem offenen Kamin. ...
------
Beinahe ohne Ruck glitt der Intercity Paris-Wien aus der Bahnhofshalle.
R musste unvermittelt und tief einatmen, so wie früher als Kind, wenn heftiges Schluchzen den gesamten Körper schüttelte und wenn ihm jedes tröstende Wort als billige Geste, sogar als Provokation, erschien.
R war nicht in der Lage, die mannigfaltigen visuellen Eindrücke wie auch Gespräche der letzten Tage zu ordnen. Er ließ sie widerstandslos emporkommen oder aufblitzen oder vorbeiziehen, wobei der dumpfe, monotone Rhythmus des fahrenden Zuges seinen mentalen Ausstieg unterstützt, ja, im Grunde sogar verlängerte.
Das mit Gepäckstücken überfüllte Abteil sowie die beiden Mitreisenden ihm gegenüber – dem Vernehmen nach ein Paar aus dem ehemaligen Jugoslawien, Jahre nach ihrer Migration nach Deutschland, auf der Reise von Stuttgart über München und Wien in ihre ehemalige Heimat – nahm R nur am Rande wahr. Hin und wieder traf ihn der Geruch von kaltem, gebratenem Huhn und Filterkaffee, abwechselnd mit den fast unverständlichen Ansagen aus dem Zuglautsprecher, die den jeweils bevorstehenden Halt ankündigten.
Der abenteuerliche Gang zum Speisewagen um eine kleine Flasche Mineralwasser, die schroffe Zugbegleiterin, die von R den vom Wiener Bahnbeamten vergessenen Schnellzugzuschlag einforderte, dann die Passkontrolleure, welche nur von Reisenden mit dunklen Haaren den Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit verlangten – und damit den kalten Hauch eines Deutschlands verspüren ließen, welcher die Lebensentwürfe mancher unserer Eltern grob durchkreuzt hatte und an deren Verletzungen auch wir, sozusagen schon als Kinder, Anteil haben mussten –, all das ließ R nur kurz jenes Raum- und Zeitgefüge wiedererlangen, aus dem er nach seiner Abfahrt herausgetreten war.
Die „Rückschauende“ fiel ihm ein. Nicht, dass er die Holzplastik von Ernst Ludwig Kirchner in so außergewöhnlicher Erinnerung behalten hatte, sondern der Titel war es, der sich ihm aufdrängte. Indigo und R hatten diese Figur im Haus der Deutschen Kunst wegen ihrer vordergründigen Primitivität geradezu belächelt und im Vergleich zur authentischen Kunst Afrikas als peinlich empfunden.
Die Rückschauende. Mintfarbener Mantel, ihre zur persönlichen Eigenart gewordene Handbewegung die Haare aus dem Gesicht zu streichen, schwarze enge Jeans, schwarze Stiefeletten…
Niemand, absolut niemand, wäre in der Lage, so einen Augenblick zu beschreiben – auch Trakl nicht. Warum auch, dachte R weiter und versuchte, sich von dem kurzen, aber sehr lautstark geführten Gespräch der beiden Mitreisenden nicht ablenken zu lassen.
Solche Empfindungen mussten für sich behalten werden. Jeglicher Versuch, sie mitteilen zu wollen, wäre ein obszönes Experiment an der Wirklichkeit.
(Schon während der Anreise, vor zwei Tagen, wollte R diesen unausweichlichen Moment gedanklich vorwegnehmen, hatte aber nicht die leiseste Ahnung von dessen tatsächlichen Wucht.) ...
Die Rückschauende
Irgendwann im Frühherbst stand ein Kuvert an der schwarzgrünen Kugelvase auf dem Tisch im Wohnzimmer, welcher das Zentrum des Raumes oder wenn man so will, das Zentrum der neuen Wohnung bildete.
Waren keine Blumen darin erwartete sie schmucklos und geduldig die Post, denn es war üblich die wenigen ankommenden Briefe mit der Anschrift in Sitzrichtung des jeweiligen Familienmitgliedes zeigend, an diese Vase zu lehnen.
Andere Zusendungen landeten auf dem Stoß von Zeitungen gleich neben dem Sofa aus gelbem Leder.
Zuerst dachte R gar nicht an einen persönlichen Brief, als er das Kuvert dort stehen sah, sondern an die Einladung jenes ländlichen Gasthofes in dem seine Frau und er zu besonderen persönlichen Anlässen gerne zu Abend aßen und von dem beide, der Saison entsprechend, eine Menüaufstellung der diesjährigen Wildspezialitäten erwarteten. Die breite schwarze Tinte, mit der der Brief beschriftet war, sowie die Briefmarke weckten dann aber doch sein Interesse.
R nahm das Kuvert, wendete es dabei und begann den Absender zu lesen. Dieser stand, als wollte er verheimlicht werden, ganz links am oberen Rand des Briefumschlages. Bei näherem Hinsehen aber war zu erkennen, dass dort, vielleicht nach kurzem Zögern, ein Familienname hinzugefügt worden war.
Für R ein seltsamer Augenblick einen an ihn adressierten Brief zu erhalten, dieser war erst der dritte oder vierte, welchen er überhaupt je bekommen hatte. Ansichtskarten oder sonstige Einladungen standen öfter an seiner Seite der Vase. Es handelte sich um den Brief einer früheren Kollegin.
Ihr Tisch im großen Arbeitszimmer war lange leer gestanden und von den anderen nur gelegentlich genutzt worden, geradeso als wollte man noch schnell die Zeit nützen, bis die eigentliche Besitzerin wieder kommt, die vielleicht nur einen freien Tag hatte.
Einer von den wenigen handgeschriebenen Briefen die R erhalten hatte, stammte von seinem Jugendfreund E und datierte zurück ins Jahr 1973, kurz nach dessen Übersiedelung in ein anderes Bundesland wegen des Medizinstudiums.
Damals hatte R das Gefühl einen ihm besonderen Menschen zu verlieren und konnte sich deshalb noch ganz genau an die Stimmung in ihm erinnern, als er sich von E verabschiedet hatte...
Seine Gedanken waren jäh in der Straßenbahn mit der er vor mehr als fünfzig Jahren abends die Brücke überquert hatte, welche den nördlichen, kleineren Teil seiner Heimatstadt mit dem Süden verband.
Während des zweiten Weltkrieges und auch noch Jahre danach bot diese Brücke die einzige Möglichkeit vom russisch besetzten Norden in den von Amerikanern besetzten südlichen Teil zu gelangen. Die Demarkationslinie war die Donau.
R wusste aus Schilderungen seiner Eltern von den Szenen, die sich an den gegenüberliegenden Brückenköpfen abgespielt hatten, wenn aus unerklärlichen Gründen die Erlaubnis zum Passieren plötzlich, von einer Person zur anderen, verwehrt wurde und wo Grenzsoldaten zu Richtern über Zerfall oder Verbleib von Beziehungen wurden.
All die Bilder hatte R nun vor sich, und diese vermischten sich mit Bildern aus der Mythologie, welche das Überqueren eines Stromes als Symbol für Veränderung oder für ein Hinübergleiten in ein anderes Leben darstellten. Wenige Wochen später hatte ihn dann dieser Brief erreicht, überschrieben mit Der glückliche Tod und einem langen Zitat aus Albert Camus gleichnamigem Roman.
Vielleicht hätte der Vorname allein zu viel Nähe, zu viel Vertrautheit gezeigt, denn was hätte Rs Familie denken sollen, wenn ein Brief mit nur einem weiblichen Vornamen als Absender angekommen wäre. Außerdem gab es in der gemeinsamen Bekanntschaft niemanden, der nur seinen Vornamen als Absender auf einen Brief schreiben würde, ebenso wenig unter den Verwandten.
Vielleicht war es nur eine Deutung, nur eine Idee von R eine solche Nähe herbeizudenken, denn als die Absenderin noch da gewesen war hatte er sie Indigo genannt. Nur in Gedanken natürlich. R hätte es nie gewagt sie tatsächlich so anzusprechen. Sie hätte es, nachdem diese Form der Anrede schon fast wie ein Kosename anmutete, als distanzlos, ja sogar als anmaßend empfinden können und wäre vermutlich verärgert darüber gewesen – und das wollte R auf keinen Fall.
Indigo deshalb, weil sie diesen für ihn schönsten aller Blautöne so gerne hatte und weil sie diese Farbe hin und wieder an sich trug, manchmal in ihrer Kleidung, manchmal als Schmuck oder, mit leichtem Hang zum Violett, als Lidschatten.
Dem Kuvert entnahm R ein sich ins Braunviolett neigendes in gleich engen Abständen geripptes Papier. Es wies fast schon die Stärke eines dünnen Kartons auf und war zudem zu einem Billett gefaltet.
Nicht eines dieser lieblosen Fabrikate, wie sie in den Papierläden oder Trafiken zu Hunderten auf den Drehregalen zu finden waren, von würgender Eintönigkeit bis hin zu überladenen, vordergründigen Arrangements verschiedenster Papier- und Schriftarten. Dieses Billett war ohne jegliche dekorative Raffinesse, schlicht und sah aus als sei es von Hand gefertigt worden.
Vorne, auf der oberen Hälfte klebte der Ausschnitt eines mehrfarbigen Druckes, eine Fotografie die Rosen zeigte. Dicht nebeneinanderliegende Rosen, nicht vollends aufgeblüht, vom schattigsten Altrosa bis zu einem verhaltenen, aber jugendlichen Orangegelb, durchsetzt mit etwas Schleierkraut.
Seine weißen Punkte verbreiteten die Atmosphäre von erotisierender Spitze und ließen die sonst so feierlich, fast ernst, fast traurig wirkenden Rosen ein wenig verspielt erscheinen.
Auf der Innenseite stand rechts mit der genannten breiten Tinte geschrieben, Indigos neue Adresse.
R musste ans Fenster gehen um die dunkle Schrift auf dem dunklen Hintergrund lesen zu können. Der leichte Kontrast der Zeilen auf dem Violett wirkte als würde sehr leise gesprochen werden und die Vertraulichkeit, welche vom Absender fast unterdrückt werden zu wollen schien klang nun neben den Rosen auch in der Handschrift durch, auf eine Weise als würde sich das Innere des Briefes wie der Teil eines intimen Gespräches darstellen.
Fast entschuldigend merkte die Schreiberin an, dass ihr für einen längeren Brief im Moment zu wenig Zeit zur Verfügung stehe, wahrscheinlich wegen der Arbeitssuche oder der Renovierung der Wohnung.
Sie sollten aber, stand in dem kurzen Brief, für die Zukunft eine andere Art der Kommunikation finden, denn derzeit hörten sie voneinander nur über den Umweg einer beiden bekannten Dritten.
Ihr würden die gemeinsamen Gespräche fehlen, die hauptsächlich im stickigen und ungemütlichen Zimmer für Raucher stattgefunden hatten, und die für beide jedes Mal ein schöner Tagesbeginn gewesen waren. Zehn Minuten vor Arbeitsbeginn. Oder wenn der Nachmittag wie bleiern vor ihnen gelegen war.
An der Tür im großen Arbeitsraum, rechter Hand neben dem Kaffeeautomaten, war eine Zusammenkunft mit Indigo angekündigt, die je nach Anzahl der daran teilnehmenden Personen, entweder in einer Privatwohnung oder in einem Lokal in der Nähe stattfinden sollte. Nach mehreren Diskussionen wurde für ein Restaurant mit französischer Küche entschieden.
R war sehr erleichtert über diese Alternative, denn er wollte sich nicht in die Privatheit anderer begeben, schon gar nicht solcher, die er nicht gut kannte. Er wollte die mit Sicherheit vorhandenen Rituale, eine Wohnung zu nützen, nicht berücksichtigen müssen. Nicht aus Mangel an Einfühlungsvermögen, sondern aus Aversion gegenüber Spannungen, die üblicherweise dann entstanden, wenn sich die Gastgeber bemüßigt fühlten, besonders zuvorkommend zu sein oder aus Gastfreundschaft Dinge geschehen ließen, welche gänzlich ihren Gewohnheiten widersprachen.
Viel lieber wollte R Indigo in einem Café treffen. Oder an einem Ort, an dem aus einem zurückhaltenden „Hallo“ eine herzliche Umarmung werden durfte.
Je näher der besagte Abend heranrückte, umso mehr wich Rs anfängliche Abneigung, sich diesem kollektiven Rendezvous anzuschließen...
Die Fahrt über die Donau, die Suche nach einer geeigneten Parkmöglichkeit trotz des vielen Schnees und die paar Schritte zur Gaststätte erlebte R in einer Art Schwebezustand, hin und her pendelnd zwischen der Konzentration auf die Straße, den Weg und den Gedanken über die bevorstehende Begegnung.
Er überlegte kurz eine Runde um das wasserseitig verglaste Gebäude zu gehen, um feststellen zu können, in welcher Formation sich die Gruppe zusammengesetzt hatte, oder wo genau im Restaurant Indigo Platz genommen hatte. Er hätte nämlich gerne in Erfahrung gebracht, an welcher Seite des Tisches sie sitzen würde und ob er sie ohne viel Aufsehen begrüßen würde können.
Diese Überlegungen verwarf R wieder. Plötzlich war ihm seine Berechnung unangenehm.
Angesichts des zwar frostigen, aber schönen Abends vermied er die Abkürzung durch den Park, der nicht allzu steil zum Ufer abfiel. Einige Schlitten fahrende Kinder waren noch da. Sie hatten einen breiten, glatten Weg in den Schnee gezogen, an dessen Oberfläche blaue und orangerote Lichtreflexe der Neonreklame des Restaurants aufblitzten.
R war fasziniert von diesem Farbenspiel und überlegte, ob es wohl möglich wäre diesen außergewöhnlichen Eindruck bildlich darzustellen. Im Prinzip wollte er noch ein wenig Zeit gewinnen, den Augenblick der Begrüßung ein wenig hinauszögern.
Nach dem Eintreten wurde er von der Kellnerin gefragt, ob er reserviert habe. Noch bevor er antworten konnte, nahm er in einem dunklen Teil des Raumes mit offenem Kamin die Tischrunde vor jener Glasfront wahr, durch die er sich von außen noch vergewissern hatte wollen, wer ihr angehörte.
Von drinnen war trotz der spärlichen Außenbeleuchtung die vereiste Alte Donau zu sehen. Sanft zeichnete der frisch gefallene Schnee die Konturen des Uferstreifens nach. Ebenso die Eisfläche, welche den Eindruck erweckte, als befände sich unter der Schneedecke eine Wiese. Nur die zum Schutz vor dem Frost umgelegten Boote ließen anderes vermuten.
Irritiert, fast verärgert, über seine weitschweifenden Beobachtungen, näherte sich R einer langen Reihe zusammengestellter Tische und war bemüht, seine suchenden Blicke so wenig wie möglich offen zu legen. Er konnte Indigo im ersten Moment nicht erkennen und setzte sich, nach dem er Jacke und Schal abgelegt hatte, vom raschen Temperaturwechsel sichtlich benommen, einigermaßen enttäuscht an die Stirnseite besagter Tischreihe neben dem offenen Kamin.
------
Beinahe ohne Ruck glitt der Intercity Paris-Wien aus der Bahnhofshalle.
R musste unvermittelt und tief einatmen, so wie früher als Kind, wenn heftiges Schluchzen den gesamten Körper schüttelte und wenn ihm jedes tröstende Wort als billige Geste, ja sogar als Provokation erschien.
R war nicht in der Lage, die mannigfaltigen visuellen Eindrücke wie auch Gespräche der letzten Tage zu ordnen. Er ließ sie widerstandslos emporkommen oder aufblitzen oder vorbeiziehen, wobei der dumpfe, monotone Rhythmus des fahrenden Zuges seinen mentalen Ausstieg unterstützt, ja, im Grunde sogar verlängerte.
Das mit Gepäckstücken überfüllte Abteil sowie die beiden Mitreisenden ihm gegenüber – dem Vernehmen nach ein Paar aus dem ehemaligen Jugoslawien, Jahre nach ihrer Migration nach Deutschland, auf der Reise von Stuttgart über München und Wien in ihre ehemalige Heimat – nahm R nur am Rande wahr.
Hin und wieder traf ihn der Geruch von kaltem, gebratenem Huhn und Filterkaffee, abwechselnd mit den fast unverständlichen Ansagen aus dem Zuglautsprecher, die den jeweils bevorstehenden Halt ankündigten.
Der abenteuerliche Gang zum Speisewagen um eine kleine Flasche Mineralwasser, die schroffe Zugbegleiterin, die von R den vom Wiener Bahnbeamten vergessenen Schnellzugzuschlag einforderte, dann die Passkontrolleure, welche nur von Reisenden mit dunklen Haaren den Nachweis ihrer Staatsangehörigkeit verlangten – und damit den kalten Hauch eines Deutschlands verspüren ließen, welcher die Lebensentwürfe mancher unserer Eltern grob durchkreuzt hatte und an deren Verletzungen auch wir, sozusagen schon als Kinder, Anteil haben mussten –, all das ließ R nur kurz jenes Raum- und Zeitgefüge wiedererlangen, aus dem er nach seiner Abfahrt herausgetreten war.
Die „Rückschauende“ fiel ihm ein. Nicht, dass er die Holzplastik von Ernst Ludwig Kirchner in so außergewöhnlicher Erinnerung behalten hatte, sondern der Titel war es, der sich ihm aufdrängte. Indigo und R hatten diese Figur im Haus der Deutschen Kunst wegen ihrer vordergründigen Primitivität geradezu belächelt und im Vergleich zur authentischen Kunst Afrikas als peinlich empfunden.
Die Rückschauende. Mintfarbener Mantel, ihre zur persönlichen Eigenart gewordene Handbewegung die Haare aus dem Gesicht zu streichen, schwarze enge Jeans, schwarze Stiefletten…
Niemand, absolut niemand wäre in der Lage, so einen Augenblick zu beschreiben – auch Trakl nicht. Warum auch, dachte R weiter und versuchte, sich von dem kurzen aber sehr lautstark geführten Gespräch der beiden Mitreisenden nicht ablenken zu lassen.
Solche Empfindungen mussten für sich behalten werden. Jeglicher Versuch, sie mitteilen zu wollen, wäre ein obszönes Experiment an der Wirklichkeit.
(Schon während der Anreise, vor zwei Tagen, wollte R diesen unausweichlichen Moment gedanklich vorwegnehmen, hatte aber nicht die leiseste Ahnung von dessen tatsächlichen Wucht.) ...