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Kinder und Atelier
Diskurse zur ästhetischen Praxis in der Elementarpädagogik

Das Atelier als Topos

Wer von einem Atelier spricht, oder sagt, er komme aus einem solchen, dem ist die Aufmerksamkeit der Umgebung in der Regel sicher; gespannt, beinahe erregt wird zugehört, wird gefragt, was man denn so mache, ob man Künstler sei und ob dieses Atelier nicht einmal zu besuchen wäre. Gegen die Hoffnung, im Eventgeschehen sämtliche Begehren einlösen zu können, und ungeachtet cooler Locations, steht der Anschein, als würde dem, der in einem Atelier arbeitet, eine Art Mehrgenuss zukommen.
Auf dieser Räumlichkeit sitzt ein Mythos: er verkündet die Botschaft anders zu sein, befreit von Durchschnitt und Gleichförmigkeit. Welche Ursachen dahinterliegen, bleibt abzutasten. Faktum ist: Atelier meint genuin nichts anderes als Werkstatt. Faktum ist aber auch, dass die seit Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gebräuchliche frankophone Bezeichnung auf Abläufe verweist, welche über die Produktion, Fertigung oder Reparatur von Gütern hinausgehen.

Bezogen auf den physikalischen Raum bedeutet Atelier nun nicht bloß Zimmer [1], sondern es bedeutet einen Ort, an dem Prozesse des Hervorbringens im Sinne der poiēsis ablaufen, genauer: Im Gegensatz zur Werkstatt finden in einem Atelier Herstellungsprozesse statt, welche aus Dispositionen von Menschen hervorgehen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, Tätigkeiten verschrieben haben, die unmittelbar mit ihrem Wesen in Beziehung stehen.
Nachdem diese Aktivitäten persönliche Tiefenstrukturen berühren – und dadurch verändern – ist ein Atelier sowohl ein Ort der Dekonstruktion als auch (Re-) Konstruktion des Subjekts; oder anders gesagt: ein Ort der Selbstherstellung.

Breite Öffentlichkeit erfährt das Phänomen Atelier durch die Malerei. Zum einen sind die sogenannten Atelierbilder dafür verantwortlich, eine Bildgattung, in welcher die Künstler ihr eigenes Atelier zum Bildthema machen, zum anderen Presseberichte und Ausstellungskataloge mit zunehmend internationaler Reichweite, wie auch vermehrt publizierte Künstlerbiografien.

Diese Lebensgeschichten sind auch Anlass dafür, dass ein Medium markant in den Vordergrund rückt: In der Mitte des 20. Jahrhunderts erwacht mit dem Thema Künstler im Atelier ein eigenes, neues Genre der Fotografie. Demzufolge kommt ein Motiv zum Vorschein, ein Ort oder besser ein Kraftfeld, welches durch die Eigenart der Einrichtung, sowie des verwendeten Materials und Werkzeugs, der vorhandenen Werke und insbesondere durch den schaffenden Menschen selbst erzeugt wird, das heißt, die darin arbeitende Person schreibt – im Sinne von Geschichte – ihre physischen und psychischen Bewegungen in diesen Raum ein [2].
Somit ist nicht nur das Werk, sondern auch das Atelier „Ausdruck des Charakters“ [3], sozusagen „Spiegelbild des Künstlers“ [4]. Natürlich können darin, eben weil vom Ausdruck des Charakters die Rede ist, Momente von (Selbst-)Inszenierungen nicht ausgeschlossen werden.

Eine nahezu flächendeckende Popularität erreicht der Mythos Atelier mit dem Trivialfilm – genauer: durch die Überhöhung im Trivialfilm. Vor allem das Maleratelier wird darin als eine Stätte der Unordnung dargestellt, in welcher sich Skizzen und fertige Werke stapeln, Studien an den Wänden hängen, offene Farbtuben sowie Pinsel herumliegen oder sonstiges Gerät verstreut ist. Der Spiegel als Mittel der Selbstbefragung und Ort des Selbstzweifels ist ebenso Teil der Inszenierung, wie übervolle Aschenbecher, Kaffeetassen und leere Alkoholflaschen, meist auf geschnorrtem Mobiliar stehend [5]. Wenn der Künstler nicht anwesend ist, sieht es zumindest so aus, als wäre er gerade da gewesen [6].

Die Zielgruppe der Rezipienten bestimmt letzten Endes das Maß der Überfrachtung bzw. „Übersignifikation“ [7] und somit den Assoziationsgrad mit Anarchistischem, Ungepflegtem, Rauschhaftem, Zügellosem und ob ein weibliches Modell oder mehrere, leicht bekleidet oder nackt, vorkommen sollen.

Die Anmutung der in den Raum eingeschriebenen Bewegungen dürfte auch der Grund sein, warum sich das Atelier von anderen Raumtypen unterscheidet und Anlass dafür wird, sich dieser Stimmung bemächtigen zu wollen. Gegenwärtig etablieren sich Räumlichkeiten mit Ateliercharakter – und als weitere Spielart das Loft – vom Hinterhof bis zum Dachgeschoß als moderne und elitäre Wohnform.
Zu ihrem Kennzeichen gehören, neben den architektonischen Charakteristika wie Einräumigkeit, hohe Sprossenfenster oder Dachfenster, neben dem Sichtbarmachen von Konstruktionselementen wie Säulen und Stützen, auch weitere, vor allem schmückende Elemente, wie sie in Ateliers zu finden sind. Benützte Möbel, Beleuchtungskörper, Truhen mit Metallbeschlägen, der obligate Kanonenofen, die Staffelei, etc.: alles wird zum Zwecke des Atmosphärischen arrangiert.
Die Dinge erfahren damit eine Umdeutung ins Dekorative und unterscheiden die heutige Luxuswohnung wohl kaum von der bürgerlichen Wohnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts [8]. Was diesen Räumen allerdings fehlt ist etwas Wesentliches: die existenzielle Dimension des Einschreibeprozesses.

So sehr die Diskurse über das Atelier – dieser miteingeschlossen – auch Gefahr laufen, Stereotype entstehen zu lassen, – ob auf den ersten Blick chaotisch erscheinend oder mit sichtbarer Ordnung, ob im Dachgeschoß verortet oder anderswo, ob in Größe eines Saales oder einer Kammer – so sehr kann gesagt werden: Das Atelier ist ein Ort der Konzentration, manchmal des Rückzugs, der Flucht, der Geborgenheit, des Rituellen. Es ist, um einen Begriff und seine Bedeutung von Jan Assmann heranzuziehen, ein Ort der „Alltagsenthobenheit und Alltagsentpflichtung“ [9]. Das Atelier ist ein Quell-Ort.