Der expressive Sinn
Der expressive Sinn eines Individuums, und damit sein „Ausdruck-Geben“ [1], unterscheidet sich von seinem „Ausdruck-Haben“ [2] oder dem eines Objektes durch den Vorgang des (bewussten wie unbewussten) Zeigens. Beide Phänomene erschließen sich dem wahrnehmenden Subjekt – bestimmt von seiner Geschichte und als psychische Entität – im Erlebnis der Anmutung, welche eine erste gefühlsmäßige Auslegung des Geschehens bewirkt [3].
Ungeachtet seines emotiven Ursprungs, bewegt sich Zeigen in Sphären der ästhetischen Kommunikation, welche dem Verständnis insofern Schwierigkeiten entgegensetzt, weil in ihr nicht der Verstand, also die Erkenntniskräfte begrifflich wirksam sind, sondern weil Einbildungskraft, also Phantasie und Gedanke in einer spezifischen ästhetischen ›Proportionalität‹ stehen bzw. zusammentreffen [4].
Damit Zeigen in seiner Materialisierung – und somit in der Art und Weise seines Sichtbarwerdens – wie auch die darin enthaltenen Mitteilungen verstanden werden können, bedarf es nach Kant bestimmter Regeln, die bei jedermann vorausgesetzt sein müssen. Er spricht in diesem Zusammenhang von der „ästhetischen Urteilskraft“ [5] des Menschen, von einem „sensus communis aestheticus“ [6] als dem Vermögen, die auf ästhetische Weise mitgeteilten Gefühle – ohne Vermittlung eines Begriffes – a priori zu beurteilen [7].
Eine Annäherung an dieses A priori, also an jenen Ort der Erkenntnis, welcher schon im Vornhinein da war und nach Kant der Vernunft entstammen soll, führt zunächst in die Philosophie der symbolischen Formen, zu Ernst Cassirer. Er hebt darin das Ausdrucksphänomen als „Grundmoment des Wahrnehmungsbewusstseins“ [8] hervor. Für ihn öffnen sich beim Blick auf das Phänomen der Wahrnehmung zugleich zwei Fenster: eines zur Psychologie, welche Wahrnehmung dem Innen zuordnet und daher als psychisches Geschehen auffasst, sowie eines zur Erkenntniskritik, welche Wahrnehmung – quasi einem Außen zugeschrieben – als erstes Element einer theoretischen Objektsetzung begreift [9].
Ob Wahrnehmung nun Voraussetzung oder Folge unserer Dingerkenntnis ist, veranlasst Cassirer weiters zu fragen, ob sie von den ›Dingen‹ zu den ›Phänomenen‹ verläuft, oder umgekehrt; und danach: inwieweit Wahrnehmung weniger ein „von außen bedingtes“, sondern vielmehr ein „bedingendes“, ein „konstitutives Moment der Dingerkenntnis“ darstellt, oder überhaupt weniger „Abbild einer bestehenden Welt“, sondern viel mehr „Vorbild des Naturgegenstandes“ ist [10].
Der noch enger gefasste Diskurs führt ihn nochmals hin zur Psychologie, welche „notwendig in die Physiologie und in die Physik“ [11] einmündet, um dann, in einer Interpretation der Psychophysik, eine Abhängigkeit „zwischen der Welt der Wahrnehmungen und der der objektiven ›Reize‹“ [12] festzustellen. Egal ob diese Abhängigkeit als kausales Verhältnis oder als funktionale Entsprechung gedacht wird: „immer gilt, daß ›Reiz‹ und ›Empfindung‹ in irgendeiner Weise aufeinander abgestimmt sind, und daß sie demnach in bestimmten grundlegenden Strukturverhältnissen miteinander übereinkommen müssen“ [13]. Das bedeutet, dass, im Sinne einer allgemeinen ›Konstanzannahme‹, einem bestimmten Reiz eine bestimmte Empfindung zugeordnet wird. Beide erzeugen sozusagen eine Synchronie „in der Gliederung der Reizwelt wie auch in der der Wahrnehmungswelt und Empfindungswelt“ [14].
Doch um auf den „Grund und Boden“ des Ausdrucksphänomens zu kommen, verlässt Cassirer Psychologie sowie Psychophysik als Erklärungsgrößen und wendet sich einer Kategorie zu, die sich, wie er sagt, „noch ganz außerhalb dieser Form der naturwissenschaftlichen Erklärung und Deutung hält“ [15]. Er wendet sich einer Welt- und Wirklichkeitsauffassung zu, in der das Sein, das in der Wahrnehmung erfasst wird, nicht als ein Sein von Dingen, als bloße Objekte erfahren wird, sondern wo es uns in der Art des Daseins lebendiger Subjekte entgegentritt [16].
Damit rückt er eine Auffassung ins Blickfeld, in welcher sich das Individuum nicht an logisch-rationalen, sondern assoziativen und damit mytho-logischen Parametern orientiert und die Welt dichtend, in Bildern, erklärt; weder ›Ich‹ noch ›Du‹ haben darin eine fixe Bestimmung, sondern bedingen und erschaffen sich gegenseitig. Die mythische Welt und Wirklichkeit ist eine emotionell wertbesetzte Dimension, Wahrnehmung und Ausdruckserleben unterliegen also einer Wertung.
Dem mythischen Individuum liegt demnach ein qualitativ anders gelagertes Verständnis zugrunde. Das mythische Individuum erklärt die Welt aus einer Erfahrung vom ›Du‹ und zwar von einem ›Du‹, welches nicht aufgrund von begrifflichen Bestimmungen auf ein ›Es‹ reduziert werden kann [17]. Cassirer wörtlich: „Je weiter wir die Wahrnehmung zurückverfolgen, umso mehr gewinnt die Form des ›Du‹ den Vorrang vor der Form des ›Es‹; umso deutlicher überwiegt ihr reiner Ausdruckscharakter den reinen Sach- und Dingcharakter“ [18], und Cassirer schließt den Gedanken mit der Wendung: „Das ›Verstehen von Ausdruck‹ ist früher als das ›Wissen von Dingen‹“ [19].
Das ›Ich‹ hat sozusagen schicksalhaft Anteil am ›Du‹, oder anders gesagt: Das ›Ich‹ steht dem ›Du‹ im Sinne eines Antwortens gegenüber und ist mit ihm – in Lust und Angst – verbunden. Wahrnehmen, Ausdruck erleben und Ausdruck verstehen sind für das mythische Bewusstsein als existenzbedingend zu begreifen.
Cassirers Wendung hallt nach, veranlasst zur weiteren Recherche und verführt den Suchenden, zwischen der mythischen und der psychologischen Auslegung von Wirklichkeit, Passungen zu erkennen.
In Luc Ciompis Bestrebungen nach einer Klarheit darüber, ob Symbolisierungen, wie beispielsweise die Sprache oder andere Zeichensysteme, das „Bewusstsein“ schaffen (und somit das Wissen und Verstehen, letztlich auch das Wissen um sich selbst), oder es bloß anzeigen, und ob das Bewusstsein vor den Zeichen besteht, oder ob diese beliebigen Zeichen ein kognitiv-affektives Wissen nur zum Ausdruck bringen, verweist er auf Piaget, welcher eindeutig zu dem Schluss kommt, dass die präverbale „Logik des Tuns“ irgendeiner Zeichensprache – und zwar lange – vorausgeht [20].
Beinahe ohne Einschränkung erstellt Ciompi daraus den Befund, dass das menschliche Bewusstsein „durch mentale Bilder, Gedächtnisvorstellungen, Nachahmung mit zeitlicher Latenz, signifikante Motorik und Gestik, Zeichnen, Musik etc. genauso wie durch Sprache offenbar bloß ausgedrückt und übermittelt, nicht aber eigentlich geschaffen“ [21] wird – um dann das Absolute der Aussage etwas zurückzunehmen; Ciompi: „Logik und Bewusstsein sind wohl nie wirklich unabhängig von einem entsprechenden Zeichensystem, das sie ordnet und strukturiert“ [22].
Als Beispiel einer ordnenden bzw. strukturierenden Wechselwirkung zwischen Logik und Bewusstsein – und hier scheint sich der psychologische im mythischen Zugang aufzuheben – führt Ciompi Piagets Beobachtung der eineinhalbjährigen Lucienne an, welche versucht „eine Uhrenkette zu fassen, von der sie sah, daß sie in eine Streichholzschachtel gelegt wurde, die sie nicht zu öffnen weiß. Die Öffnung ist auf 3 mm reduziert. Als Resultat von vorangegangenen Erfahrungen stehen ihr lediglich zwei Schemata zur Verfügung: Die Schachtel drehen, um ihren Inhalt auszuleeren, und den Finger in den Spalt stecken, um die Kette herauszuholen. Sie versucht beides sofort, aber ohne Erfolg.
Es folgt eine Pause, während welcher Lucienne eine sehr merkwürdige Reaktion zeigt, die nicht nur ihren Versuch, die Situation zu überdenken und sich durch mentale Kombination die vorzunehmenden Operationen vorzustellen, sondern auch die Rolle der Imitation in der Entwicklung von Vorstellungen illustriert: Sie mimt die Verbreiterung der Spalte.
Nachdem sie sie sehr sorgfältig betrachtet hat, öffnet sie den Mund, zuerst nur ein wenig, und dann weiter und weiter. Sie möchte die Spalte erweitern. Der angestrengte Versuch, sich dies vorzustellen, wird plastisch ausgedrückt, das heißt in ihrer Unfähigkeit, die Situation in Worten oder klaren visuellen Vorstellungen auszudenken, braucht sie eine einfache motorische Darstellung als Bedeutungsträger oder Symbol. Unmittelbar nach dieser plastischen Reflexion steckt Lucienne ohne zu zögern den Finger in den Spalt, erweitert mit ihm die Öffnung und packt die Kette“ [23].
Mit Caspar David Friedrich kommt die Suchbewegung Richtung expressiver Sinn zu einem vorläufigen Schluss. Sein Anstoß: „[D]er Mahler soll nicht bloß mahlen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich so unterlasse er auch zu mahlen was er vor sich sieht“ [24], mutet auf den ersten Blick trivial an; auf den zweiten – jedoch – entzieht er dem undurchsichtigen A priori die Hauptrolle und lässt darin das Wahrnehmungs- sowie Ausdrucksgeschehen als einen gleichzeitig stattfindenden, zentripetal wie zentrifugal wirkenden Prozess erkennen, in welchem ein Anspruch des Authentisch-Seins, des Echt-Seins des Malers mitschwingt.
Mit seiner Aussage aber schleift C. D. Friedrich dem Diskurs noch eine weitere Facette an, in der das Phänomen Darstellung, quasi als Nachsatz, kurz reflektiert werden kann: Ihre Geburt versteht Richter als „Beginn einer Wiedergabe, einer Repräsentation von etwas Bestimmbarem durch etwas Bildhaftes bzw. Gestalthaftes“ [25]. Allgemeiner aufgefasst wird das Phänomen Darstellung von Gadamer als „Repräsentation von etwas durch ein anderes“, wobei Richter ergänzt: „welches in einem Herstellungsprozess besonderer Art geschaffen wurde“ [26].
Entsteht Ausdruck dabei auf unbeabsichtigte oder unbewusste Weise, so ist Mühle geneigt von „Gefühlsausdruck“ [27] zu sprechen, also von einem bloßem „Abdruck des Inneren im Äußeren“ [28], um darin ein primärprozessuales Geschehen zu erkennen; wird Ausdruck beabsichtigt und damit bewusst hervorgerufen, spricht Mühle von einem Sekundärprozess, sozusagen von einem „Erlebnis- oder Wesensausdruck“ [29].
Bollnow sieht in diesem Zusammenhang eine „Darstellung des Inneren in einem Äußeren“ [30] – und diese wird von einem „Ausdruckswillen“ [31] geleitet. Ausdruck ist, so kann mit Richter zusammengefasst werden, „das (über die Darstellung hinausgehende) spezifisch ›gestalterische‹ Moment des Objektivationsgeschehens“ [32] und ist damit als Manifestation des expressiven Sinns zu verstehen.