Gettin´ the Blues oder: Spielen um vier Uhr früh (?)
Die gegenwärtige Debatte über Frühbildungsstrategien im Kindergarten bekommt insofern eine bedenkliche Schlagseite, als es scheint, dass die immer wiederkehrenden Fragen nach dem wirtschaftlichen Nutzen früher Bildung ihren humanisierenden Sinn ablösen. Wem nützt sie also wirklich? Sollte sie dann nicht gleich Ausbildung genannt werden? Ab wann und wie soll sie systematisch erfolgen? Deutsche und Schweizer Studien über den volkswirtschaftlichen Nutzen des Krippenbesuches belegen, dass sich ein Staat später sehr viel Geld erspart, wenn er früh genug Bildungsangebote setzt. Kinder gehören sozusagen zu jenen Produkten der Gesellschaft, mit denen eine ungeheuer hohe Umwegrentabilität und Produktivkraft erreicht werden kann. Frisches Humankapital also.
Nebenbei bemerkt: Falls es darum geht, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger zu werden und der Nutzen von Bildung rein in kapitalistisch orientierten Kategorien getaktet ist, kann beruhigt werden: Der schnell wachsende asiatische Markt mit seiner eigenen Auffassung von Erziehung und Bildung zieht sowieso an Europa vorbei. Es drängt sich aber der Gedanke auf, ob der ökonomisch-utilitäre Ansatz nicht schon jetzt Strömungen erzeugt, die dafür verantwortlich sind, dass in der Europäischen Union Tendenzen zur Renationalisierung bemerkbar werden, oder – zwar in eine andere Richtung weisend – bereits heute eine Art 68er-Bewegung des 21. Jahrhunderts generiert wird.
Wen wundert es also, wenn in der frühesten Bildungsstätte, dem Kindergarten, jede erdenkliche Aktivität des Kindes, mit einer gewissen Brutalität der Empathie oder pädagogischer: "mit suggestiver Sanftheit und Autorität" [1] und didaktisch toll eingefädelt, in ein vordefiniertes Ziel gelenkt wird, gleichzeitig aber davon die Rede ist, dem elementar pädagogisierten Kind Forschung näher zu bringen – auf manchen Unis werden auch schon Konzepte dafür entwickelt – dass der Zögling dann, die Absicht erkennend, schon in der Volksschule null Bock auf Bildungsinstitutionen hat und später in seiner Adoleszenz den Blues bekommt?
Nietzsche, offensichtlich selbst an dieser Stimmung leidend, beginnt die Einleitung von "Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", mit einem Zitat Goethes: "Übrigens ist mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben". Und weiter unten stellt er fest: "Unzeitgemäß ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas, worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche, weil ich sogar glaube, daß wir alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, daß wir daran leiden“ [2].
Wieder in der Gegenwart, erhebt sich lapidar die Frage: Leiden wir vielleicht auch an einem verzehrenden historischen Fieber und haben es nur noch nicht erkannt? Folgende Aufzählung könnte schon als Anzeichen erhöhter Temperatur durchgehen. Sie stammt aus der Reflexion eines Kinderkunstprojekts (wie könnte es denn anders genannt sein?), in welchem sich Kinder und Eltern gemeinsam (die Betonung liegt auf gemeinsam), begleitet von professionellen Künstlerinnen und Künstlern (versteht sich von selbst) in der sogenannten Elternwerkstatt (ja, wo denn sonst?) mit einem bestimmten Thema auseinandergesetzt haben und und beschreibt, was dadurch nicht alles gefördert wurde: "Förderung der Fantasie und der Vorstellungskraft, Förderung im kindlichen-ästhetischen Bereich, Förderung der sprachlichen Kompetenz, Förderung der Personalkompetenz, Förderung der sozialen Kompetenz, Förderung der Selbständigkeit, Förderung der praktischen Kompetenz, Förderung der Sinneswahrnehmung, Förderung der logischen Kompetenz, Förderung der Sachkompetenz und Wissenserweiterung, Förderung der Feinmotorik... Resilienzförderung: Stärkung des Selbstbewusstseins, Förderung der sozialen Kompetenz, Förderung der Selbstwirksamkeitsüberzeugung, Förderung von Problemlösungsfähigkeiten, positive Verstärkung der Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft, Aufbau einer positiven emotionalen Beziehung, Vermittlung einer optimistischen und zuversichtlichen Lebenseinstellung..."[3]
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es ist als Pflicht anzusehen, dem Kind hinsichtlich seiner Entwicklung jegliche Unterstützung zuteil werden zu lassen und es auch herauszufordern, so wie es Pflicht ist, wie auch immer entstandene Verzögerungen oder Richtungseigenschaften seiner Entwicklung pädagogisch zu begleiten. Doch diese Förderwut macht Angst. Nicht nur um das Kind, sondern auch deshalb, weil sich darin ein Bild vom Kind offenbart, wie es von der Gesellschaft gesehen wird oder gesehen werden will: als Homunkulus.
Derartige Vorstellungen über frühe Bildung lassen außerdem den berechtigten Vorwurf zu, dies alles habe nichts mehr mit einer Vision von Pädagogik als einer zur Erkenntnis führenden Begleitung zu tun, sondern wäre purer Frühbildungsakademismus oder, bei Nietzsche bleibend, glatte Bildungsphilisterei. Außerdem unterstellen oben genannte Aspekte dem Kind per se den Status eines personifizierten Defizits – und das ist anmaßend. Erkenntnisse aus der Säuglings- und Kleinkindforschung oder Neurobiologie verweisen auf das Gegenteil.
Da die gesellschaftliche Entwicklung in jene Richtung verläuft, Freiräume weniger zur Selbstreflexion, sondern mit Freizeit als Mittel der Zerstreuung und Selbstentfremdung zu verwechseln, kann kaum erwartet werden, dass dem Kind Freiräume für seine Sinnentwicklung gewährt werden können oder beispielhaft vorgelebt werden. Berichte über Vorschulkinder, welche sich gegen vier Uhr früh den Wecker stellen, um sich ein wenig "Eigenzeit" [4] vom Alltag abzutrotzen und spielen zu können, sollten aufhorchen lassen.