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Kinder und Atelier
Diskurse zur ästhetischen Praxis in der Elementarpädagogik

Kreativität

Ganz im Geiste der Zeit und kaum mehr nachvollziehbar, aus welcher gesellschaftlichen Richtung kommend, sind die Zurufe, welche eine Steigerung des kreativen Outputs in der Schule und neuerdings auch im Kindergarten verlangen. Erfahrungsgemäß führt die Illusion von der immerwährenden Kreativität zu einem Reichtum an unausgegorenen Ideenbezeugungen, aber kaum zu nachvollziehbaren, noch seltener zu kreativen Lösungen. Bezogen auf die ästhetische Kommunikation werden Nachfragen darüber, ob es sich bei den Ergebnissen um Beispiele "exemplarischer Originalität oder originalen Unsinns" [1] oder nur um Unsinn handelt, als Provokation aufgefasst, als beleidigend empfunden oder zickig gekontert, die Ergebnisse wären ohnehin persönlicher Geschmack jeder / jedes Einzelnen.

Die ständige Anrufung künstlerischer Kreativität oder Kreativität im Allgemeinen – und, damit verbunden, die Fetischisierung der originellen Idee – lässt einen konstruktiven Zugang, der nach Strategien einer Umsetzung und somit nach Qualität überhaupt fragt, im Vorhinein kippen. Dazu Sloterdijk: „Es ist Erblast und Dogma der Moderne zugleich, der permanenten Innovation das Wort zu reden; sie frönt dem wilden Wachstum, dem Originalitätsstress und der Pflicht zur Differenz, mag diese Individualität Sinn bezeugen oder nicht“ [2].

Wenn beispielsweise an den Fenstern eines Gebäudes etwa vierzig Papiertulpen simpelster Form in einer Reihe kleben, dann ist man sofort im Bilde: Hier ist ein Kindergarten und es ist knapp vor Ostern. Die verwendeten Elemente entsprechen nicht annähernd dem kindlichen Geist, sondern eher einer naiven Vorstellung dessen mancher Erwachsener. Diese besonders ausgeprägte Variante falsch verstandener Kreativität ist in dem fast pathologisch zu bezeichnenden Zwang zu finden, Gruppenräume, Korridore oder Garderoben der Kindergärten zu schmücken; pathologisch deshalb, weil lediglich eine „kalkulierte Stimulierung der Wirkung“ [3] erzielt werden soll. Historisch betrachtet dürften sich hier noch unbewusst Rudimente einer Ära hartnäckig halten, in der in den Kinderbewahranstalten Elemente von Volkskunst – und einer solchen, die nie eine war – sowie von Volkstum – und eines solchen, das nie eines war – zur Bildung des nationalen Gedankengutes verwendet wurden.

Den grundlegenden Fragen nach einer pädagogischen Begleitung der bildnerischen Aktivitäten stehen Aufforderungen nach mehr Kreativität etc. ... zunehmend als Konfusion gegenüber, denn die vom Kind selbst entwickelten bildnerischen Ausdruckshandlungen und Bewältigungskonzepte werden nicht ausreichend erkannt und deshalb romantisiert, oder sie werden als frühe künstlerische Ergebnisse heilig gesprochen und deshalb völlig überbewertet.

In diesem Zusammenhang erweist sich der stehende Satz "Machst du mir eine schöne Zeichnung?" als besonders fragwürdig. Sowohl das Adjektiv "schön" als auch das Personalpronomen, in der ersten Person Singular lassen aufhorchen und nach der pädagogischen Relevanz dieser Aussage fragen. Dieselbe Frage drängt sich auf, wenn im Strudel des herrschenden Kreativitätswahns Kinder vierfüßig und mit Farbe an Handflächen und Fußsohlen über meterlanges Packpapier laufen oder hüpfen müssen, welches nachher, im Flur des Kindergartens, als GemeinschaftsKunstProjekt von den Besucherinnen und Besuchern bestaunt werden muss.

Was bleibt, ist die Vermutung, dass hier Kinder – weil sie gerne schmieren, sudeln und gatschen, aber aus einem anderen Grund – für Tätigkeiten instrumentalisiert werden, die einem Aktionismus, entstanden in der der Mitte des vorigen Jahrhunderts, geschuldet sind. Auch hier geht es um einen Zweck, auch hier dient die Arbeit letztlich dazu, die eigene, progressiv gemeinte Haltung zu demonstrieren und hat mit kindlichem Erleben oder Lernen kaum etwas zu tun.

Wo aber haben Mitteilungen ihren Platz, die nicht nur aus erfreulichen Anlässen, sondern aufgrund von lebensbedrohenden Krankheiten, Erlebnissen sexueller Gewalt, Kriegsereignissen oder anderen psychischen Dispositionen entstehen? Und wie wird mit Zeichnungen umgegangen, in denen Kinder die von ihnen entdeckte Geschlechterdifferenz festhalten? Was geschieht mit solchen Darstellungen? Werden diese auch im Flur präsentiert?

Die Bedeutung, sich durch bildliche Symbolisierungen mitteilen zu müssen – sozusagen als Prozesse der Selbstherstellung – findet ebenso unzureichende Akzeptanz in der Alltagsgesellschaft wie das Wissen um die Förderung der bildlichen Vorstellungswelt. Diese ist, wie der soziale, motorische oder derzeit zu einseitig diskutierte sprachlich-begriffliche, ein elementarer Bestandteil der Personagenese. 

Der fordernde elterliche Narzissmus, talentierte und kreative Kinder haben zu wollen, wird bei speziell dafür inszenierten Elternabenden mit eigens zu diesem Zweck abgehaltenen Vernissagen und für diesen Anlass produzierten schönen Werken aufrecht gehalten.
Ergebnisorientierte Anleitungen, genährt von dem Glauben, es gäbe für sämtliche zu erlernenden Kulturtechniken einen Trick oder eine Hintertür, vermitteln das Gefühl, der Umgang mit ästhetischen Phänomenen wäre ein Dauerglück verheißendes Happening.

Spätestens dann, wenn Kinder in so einem Klima beginnen, ihre eigenen Arbeiten zu kopieren, weil diese beim kunstenthusiasmierten Publikum super ankommen und sogar Geld einbringen, müsste bei Pädagoginnen und Pädagogen höchstes Unbehagen entstehen. Oder überwiegt hier nicht doch die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Legitimation, welche solche Angebote vorantreibt und durch die das unerhörte Leiden der sozialpädagogischen Arbeit ein Ventil gefunden hat?