Vom Kind und dem Bade
Inspiriert durch die 1902 auf Deutsch erschienene und gleichnamige Publikation von Ellen Key, wird das 20. zum Jahrhundert des Kindes ausgerufen. Daran anschließend ist die Formel Pädagogik vom Kinde aus eine Sammelbezeichnung für die Ansprüche der reformpädagogischen Bewegung [1], deren Ursprung genau genommen bis Comenius zurückreicht [2]. An der Wende zum neuen Jahrhundert erfährt auch die Kinderzeichnung – ihre Entdeckung 1887 wird dem Kunsthistoriker Corrado Ricci zugeschrieben – als Indiz des Kindseins hohe Anerkennung. Beeindruckt von der Vitalität und Ausdruckskraft kindlicher Darstellungssysteme, spricht Ricci fast verhängnisvoll von Kinderkunst. Verhängnisvoll insofern, als diese Wendung in reformpädagogischen Kreisen mit Konnotationen wie rein oder unverfälscht eine ungeheuere Aufladung erfährt. Sie entspricht damit der Idee einer zeitgleich postulierten "Heiligkeit des Kindes" [3], wobei der Reinheitsmythos in reformpädagogischen Kreisen auffallend oft strapaziert wird.
In Wien gründet Franz Cižek 1885 eine private Zeichenschule, die 1897 staatlich anerkannt und 1906 in die Kunstgewerbeschule als "Versuchsschule" integriert wird. Cižek orientiert sich an der Ausdrucksfähigkeit des Kindes und lässt damit die historisierend klassizistisch geprägte Kunstauffassung hinter sich. Sein pädagogischer Ansatz findet national wie international hohe Anerkennung; Ergebnisse aus dem Unterricht werden in Wien und als Wanderausstellungen in Holland, Norwegen, Schweden sowie den USA gezeigt.
Eine Sehnsucht nach Befreiung von Geschichte, nach Echtheit oder Unbefangenheit sowie die Radikalität einer intellektuellen und kulturellen Avantgarde dominieren die Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg. Manche Vertreter des deutschen Expressionismus lehnen eine akademische Ausbildung ab, sie sehen – wie auch Pablo Picasso und Georges Braques, die Begründer des Kubismus – in der Kinderzeichnung und in den Werken sogenannter primitiver Kulturen eine Quelle der Inspiration. Hinzu kommt, dass die Bildnerei der Patienten in psychiatrischen Anstalten durch den deutschen Psychiater und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1922) große Beachtung gewinnt. Für den österreichischen Expressionisten Alfred Kubin strahlt die Kunst der"Geisteskranken" sogar "Geistesfrische" aus [4].
Wiederaufbau nach 1945, Wirtschaftswunder und Politik können die gesellschaftlichen und kulturellen Verkrustungen nicht auflösen. Aus dem Geist der Antivietnamkriegsdemonstration in den USA entstehen gegen Ende der Sechzigerjahre in Europa, ausgehend von Polen, Studentenproteste gegen totalitäre, vor allem politische Systeme. Der Anspruch auf eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Form und Auffassung des Lebens aller menschlichen Individuen, egal welchen Alters, Geschlechts oder welcher Herkunft, sind Basis für den Kampf gegen die gesellschaftliche Erstarrung. Literatur, Musik, Kunst generell ist in den Augen der 68er Generation ein rein gesellschaftspolitisches Statement, welches in Österreich am 7. Juni 1968 durch die Uni-Ferkelei, unter dem Titel "Kunst und Revolution" und veranstaltet von Mitgliedern des Wiener Aktionismus, ihren gesellschaftskritischen Höhepunkt findet.
Längs dieser sozialen Bruchlinien findet das Thema Kindheit zum zweiten Mal seinen Weg in die Öffentlichkeit. Ihre Manifestation erlebt die Debatte in der Kinderladenbewegung in Berlin und Hamburg, welche ein "antiautoritäres, nicht-repressives Gegenmodell zu den bürgerlichen, meist konfessionellen Kindergärten" bilden will. Sie "richtet sich gegen die autoritäre Erziehung in der bürgerlichen Kleinfamilie" und will "durch die antiautoritäre Erziehung in Kinderkollektiven freiere und kritikfähigere Kinder darauf vorbereiten, als Erwachsene den ›Kampf um die Überwindung der Klassengesellschaft‹ weiterzuführen" [5].
Anders als zur Jahrhundertwende bestimmt nun nicht mehr die Heiligkeit des Kindes, sondern vielmehr seine säkulare Betrachtung das pädagogische Handeln. Waren zunächst noch die Verhältnismäßigkeit zwischen Subjekt und Bildungsprozess sowie deren Bedingungen das Thema, fokussiert der bildungspolitische Diskurs ab den 1970er-Jahren die Frage, ab welchem Lebensalter das menschliche Individuum mit operationalisierten Lernzielen konfrontiert werden soll. Methodenpluralismus wie auch die Vorstellung anything goes zielen auf Machbarkeit ab – und heben das Individuum weg von seinem subjektiven Erlebnishintergrund. Selbst der von Laura Chapman (Cincinnati, Ohio) zu Beginn der 1980er geprägte, und die Situation auf drastische Weise aufzeigende Begriff "Instant-Unterricht", wie auch ihr bis nach Europa tönender Ruf nach einer Alternative zu "Fast Food and Fast Aesthetics" [6], verklingen in postmoderner Unübersichtlichkeit: Sein leiser Nachhall verweist bereits auf eine Dimension von Bildung als Ansammlung "nackter Stimuli" [7].
Die triadische Relation Kind, Spracherwerb und Bildungsprozess betreffend, lässt sich vorausschicken, dass die Bedingungen, unter welchen das menschliche Individuum Sprechen erlernt, also Umfang, Artikulationsfähigkeit sowie Ausdrucksvermögen, seit der Antike Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sind. Wenn Defizite im individuellen Sprachgebrauch eine aufbauende Bildungsarbeit verzögern, erfahren diese Erkenntnisse erfahrungsgemäß eine schärfere Wahrnehmung; Reaktionen darauf offenbaren Bestrebungen wie vorhandene Mängel auszugleichen oder bestimmte Fähigkeiten trainieren.
Eine am Kind orientierte Pädagogik sieht ihren Schwerpunkt jedoch darin, das Sprechen im Subjekt zu veranlassen; das heißt, jene Momente seiner "imaginären Selbstkonstitution" [8] miteinzubeziehen, die sich entlang des Verbalen bewegen. Angesprochen sind das Fabulieren mit Dingen oder der eigenen Körperlichkeit, alle Facetten der Bewegung, Lautstrukturen mit ihren ausgeprägt onomatopoetischen Elementen, grafische, malerische, plastisch-skulpturale Aktivitäten und solche, die aus unterschiedlichen Materialkombinationen hervorgehen – "Zwischensphären" also, aus denen das Individuum die "Verwicklung von Sichtbarem und Unsichtbarem" [9], akustisch-gestisch wie werkschaffend (oder gleichzeitig), zu artikulieren vermag...