Frühe Bildung und ihre Indizien
Die Ergebnisse der europäischen Bildungsforschung verweisen im Wesentlichen auf Mängel in den so genannten Kernkompetenzen, wie Aneignung und Gebrauch der gesprochenen und geschriebenen Sprache sowie an Fähigkeiten im Bereich des naturwissenschaftlichen Denkens.
Dass die äußere Voraussetzung für den Erwerb derartiger Kompetenzen nicht nur an der Frage nach qualifiziertem Personal hängen bleiben kann, sondern auch Thema für frühe Bildungsangebote sein soll, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. Als erste Reaktion darauf wurden sehr rasch Programme für Kindergarten, Vor- und Volksschule angekündigt, die im Großen und Ganzen darauf abzielen, Defizite zu kompensieren und bestimmte Fähigkeiten zu trainieren. Frühe Bildung verlangt, und darauf ist nicht mehr im Übermaß hinzuweisen, eine Begleitung des Kindes in seiner intellektuellen und emotionellen Dimension – und: eine ungeteilte Achtung seiner Würde.
Hinzuweisen ist aber darauf, dass sich das Fundament einer Bildung von Anfang an, egal für wie modern sich eine Gesellschaft hält, immer noch aus jenen Momenten zusammensetzt, welche derzeit in der öffentlichen Bildungsdiskussion keinen Platz haben: Momente der „ästhetischen Wahrnehmung" [1]. Ihrem Charakter nach ereignishaft bilden sie den Eingang in eine Passage, in der Symbolisierungsprozesse – phonetische, sprachliche, gestische, darstellende oder werkschaffende – entstehen, aber auch antizipiert werden können. Damit sind weder der gute Geschmack noch die Lehre vom Schönen angesprochen, sondern – von aisthētόs, sinnlich wahrnehmbar, kommend – schlicht Empfindungen, welche das menschliche Individuum befähigen, Fundamente seiner Entwicklung, seines Fühlens wie Denkens herzustellen.
An dieser Stelle wird ein Verständnis von Bildung angesprochen, welches Raum für Aktionen anbietet, die weder bis ins Detail durchgeplant sind, noch die Absicht eines anderen verfolgen müssen: ein Bildungsverständnis, das Einsichten, Erkenntnisse, Erlebnisse gewährt, die einfach passieren können, absichtslos und vollkommen unvermittelt, so als ob Schnee vom Dach gleitet – Erlebnisse, welche am Kreuzungspunkt von Phantasietätigkeit und Realitätsbegegnung entstehen.
Ihre Plötzlichkeit und Nachhaltigkeit werden vom Kind höchst intensiv erlebt, können zu nicht enden wollenden Wiederholungen einmal entdeckter Abläufe führen, oder zu dem Bedürfnis, diese immer wieder neu zu provozieren. Sie können ihm erlauben, sich auf die unterschiedlichen Symbolisierungsebenen einzulassen und es dazu befähigen, auf einer oder mehreren dieser Ebenen zu kommunizieren. Es ist von Bedingungen die Rede, die es dem menschlichen Individuum ermöglichen, unterschiedliche Aktivitäten geistig vorwegzunehmen, „einer Idee nachzuwachsen, Hypothesen über die Welt zu testen“ [2] oder Scheitern kennen zu lernen, ganz abgesehen von der Bedeutung jener Personen, die dieses Tun erkennen, zulassen und durch Impulse Perspektiven anbieten, oder vom Vertrauen in die Umgebung.
Die Intensität der Erlebnisse und die daraus entstehenden Erfahrungen sind nicht mitteilbar. Wenn daher nach ihrer Qualität gefragt werden soll, bleiben Antworten und Beweise vorerst aus. Sie sind an einer Verhaltensänderung des menschlichen Individuums abzulesen, wie an einer generell höheren Aufmerksamkeitsspanne sowie einem veränderten Fragehorizont, einem offenen Herangehen an Personen, einem gesteigerten Interesse an Tätigkeiten und Materialien, an der Stimme, der Sprache und an Geschichten – und sind vielleicht die wahren (?) Indizien früher Bildung.